Als Ergebnis der Kommunalwahlen gewann Einiges Rußland alle 25 Sitze im Stadtrat von Wladimir – zum ersten Mal in der postsowjetischen Geschichte der Partnerstadt. Die Wirkung dieses Ergebnisses zeigte sich bei der konstituierenden Sitzung: Nikolaj Tolbuchin wurde in weniger als einer Minute zum Ratsvorsitzenden gewählt, und Andrej Schochin erhielt zum dritten Mal in Folge die Schlüssel zur Macht in die Hand. Der Blog berichtete darüber gestern.
Auf Anfrage von Zebra TV erläuterte nun der auch in Erlangen bekannte Dmitrij Petrosjan, Doktor der Philosophie, außerordentlicher Professor des Lehrstuhls für soziale und geisteswissenschaftliche Disziplinen der Wladimirer Filiale der Russischen Akademie für Soziologie und Geisteswissenschaften und Direktor des „Zentralen Russischen Beratungszentrums“, die Ergebnisse des Wahlkampfs und zog die Schlußfolgerungen für alle, die an den politischen Prozessen in Wladimir beteiligt sind.

Für diejenigen, die die Wahlen seit langer Zeit beobachten, ist nichts Unerwartetes geschehen. Zumindest, weil Ende 2019 die Abstimmung via Parteilisten durch die Abstimmung in Ein-Mitglieder-Wahlkreisen ersetzt wurde. Wie die Praxis der letzten Jahre zeigt, siegen in solchen einsitzigen Wahlkreisen traditionell die Vertreter der Partei Einiges Rußland. Ich erkläre dies damit, daß sie als Personen mit politischem Hintergrund oder solider Führungserfahrung antreten. Sie werden dem Wähler als Menschen mit Macht präsentiert, denen man vertrauen kann. Jeder, der sich gegen sie stellt, sieht hingegen wie ein Emporkömmling aus, was typisch für unsere politische Kultur ist.
Die Abstimmung über Parteilisten würde Kommunisten, Vertreter der Liberaldemokratischen Partei in den Stadtrat bringen, möglicherweise auch von Gerechtes Rußland und Jabloko. Gleichzeitig müssen wir, wenn wir über den Sieg von Einiges Rußland sprechen, bedenken, daß keiner der siegreichen Kandidaten, unterstützt von der Regierungspartei, in seinen Werbematerialien dem Wähler erklärt hat, mit wessen Unterstützung er antritt. Erst im Wahllokal, wurde klar, daß der Kandidat Einiges Rußland vertrat. Offenbar wird das Ansehen der Partei als zu niedrig angesehen, obwohl es sich dabei eher um ein Stereotyp handelt. Das Ansehen der Partei ist zwar tatsächlich zu niedrig, um eine Mehrheit über die Listen zu erhalten, aber in allen Umfragen würden 30-35% der Wähler für Einiges Rußland stimmen.
So oder anders wurde der Sieg in den Wahlkreisen mit einem Einzelmandat errungen, was vorhergesagt und wohl auch so geplant war. Reden wir nicht von Fälschungen ohne Beweise, obwohl all dies so meinen: Wahlen, die drei Tage dauern, sind für Beobachter äußerst schwer zu kontrollieren. Aber nehmen wir eine rein technologische Frage. Die niedrige Wahlbeteiligung hat bereits Tradition: Die 18% Wahlbeteiligung hatten wir nicht zum ersten Mal. Dies ist unter anderem das Ergebnis der Boykottstrategie, die bei früheren Wahlen wiederholt angewandt wurde, hat aber auch zu tun mit der Apathie und dem Mißtrauen der Wähler in Sachen freier Wahlen, ist ein Spiegelbild dessen, daß man meint, die eigene Stimme entscheide ohnehin nichts.
Gleichzeitig können wir nicht sagen, unser Volk sei unpolitisch und 80% der Wähler hätten kein Interesse an dem, was geschieht. Nein, sie sind interessiert, aber erinnern wir uns einmal, wie der Wahlkampf aussah. Ich bin jemand, der beruflich politische Prozesse beobachtet, aber selbst ich mußte auf eigene Faust Informationen über die Kandidaten recherchieren, danach suchen, was sie tun, wer von welcher Partei kommt und wer in welchem Wahlkreis nominiert ist. Im Aufzug des Hauses, in dem ich wohne, war immer das Porträt eines Vertreters von Einiges Rußland zu sehen, aber weder ein kommunistischer noch ein Kandidat der Vereinigten Demokraten tauchten in meinem Hof auf.
Junge Menschen versuchten, in sozialen Netzwerken Wahlkampf zu machen, aber es wurde nur ein Appell an ihre Unterstützer. Sie wandten sich überhaupt nicht an jene Menschen, die sie nicht kannten und zum ersten Mal ihren Namen sahen. Bei all dem Gerede über administrative Ressourcen, über mögliche Verfälschungen, rein technologisch haben unser System und die nichtsystemischen Oppositionellen es nicht verstanden, ihre Wählerschaft zu mobilisieren. Sie können weder ihr Elektorat genau definieren, noch dessen Größe bestimmen, und erst recht bringen sie ihre Wählerschaft an die Urne. Das ist ziemlich offensichtlich. Eine Person, die nicht speziell an politischen Prozessen interessiert ist – und wir haben mindestens die Hälfte davon -, wo soll so jemand etwas über die Kandidaten der Opposition, ihre Programme, für das, was sie stehen und was sie vertreten, in Erfahrung bringen. Das ist eine altbekannte Sache – im voraus zu verlieren. Unsere systemische Opposition – die Kommunisten oder die Liberaldemokraten – weiß, wie man sich an Wahlen beteiligt, und sie weiß, wie man es richtig macht. Doch der nichtsystemischen Opposition fehlt wahrscheinlich die Erfahrung, wie sie in den unterschiedlichen Wählerschichten Stimmen fangen kann.
Ob es Diskussionen im Stadtrat geben wird, oder ob er einstimmig wie nie zuvor sein wird, hängt davon ab, wie sich die sozioökonomische und politische Situation im Land und in der Region in den kommenden Jahren und vielleicht Monaten entwickelt, ob es neue Herausforderungen gibt, wie sich die Situation mit Corona entwickelt. Es ist klar, daß die Stadtratsmitglieder jetzt als Einheitsfront auftreten, außerdem ist das Amt des Ratsvorsitzenden nicht mehr so bedeutsam wie noch vor kurzem, und es besteht innerhalb der Partei ein Konsens über den Kandidaten für das Amt des Bürgermeisters. Obwohl sich selbst hier, wie Sie wissen, der vielleicht letzte aktive Politiker in der Region Wladimir, Sergej Kasakow, eingemischt haben könnte und der nun ein Gerichtsverfahren mit dem Ziel angestrengt hat, die Wahl des Stadtoberhaupts zu annullieren.
Das Problem mit den Ergebnissen dieser Wahl – bei einer so niedrigen Wahlbeteiligung von 18% und 100% der Sitze einer Partei im Stadtrat – liegt darin, daß sie eine ihrer wichtigsten Funktionen nicht erfüllen: die Interessen verschiedener Bevölkerungsgruppen zum Ausdruck zu bringen. Wir wissen wirklich nicht, was die politischen Präferenzen der 80% sind, die nicht zur Abstimmung gingen. Wir haben im Stadtrat keine Vertretung derjenigen, die andere Parteien und andere Politiker unterstützen. Probleme und Widersprüche zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen – wirtschaftlich, sozial, beruflich – haben sich ja nicht in Luft aufgelöst und werden sich früher oder später manifestieren. Deshalb gibt es ja eine republikanische Regierungsform mit Wahlen und Räten. Heute haben wir einen Stadtrat, der durch seine Struktur nicht die tatsächlich existierende Fülle der Ansichten der Bürger widerspiegelt.
Nun zum Oberhaupt der Stadt. Wenn Andrej Schochin die Direktwahl des Oberbürgermeisters wiederherstellt, wie er vor der Wahl sagte, wäre seine Wahl für eine neue Amtszeit, wie ich glaube, gerechtfertigt. Seine Effizienz sollte danach beurteilt werden, wer was vom Chef der Kommunalverwaltung erwartet. Aus Sicht des Machtwechsels wäre es gut, einmal einen anderen Menschen zu sehen, es kommt ja in der Gesellschaft immer zu Veränderungen, neuen Entwicklungsimpulsen, und die Menschen leben damit, daß es eine gewisse Bewegung gibt, und sie fangen an, ihre eigene Verantwortung dafür zu spüren, wie die Macht funktioniert.
Gleichzeitig wird, wie soziologische Untersuchungen zeigen, die Tätigkeit von Andrej Schochin nicht geringer eingeschätzt als die anderer Führungspersönlichkeiten. Deshalb haben viele Menschen nicht so recht verstanden, warum er hätte ausgewechselt werden sollen. Ein ausreichend großer Anteil der Stadtgesellschaft, insbesondere der unpolitische, wird im Prinzip sagen, die Stadt entwickle sich und stehe sehr gut da, vor allem im Vergleich zu vielen anderen Städten. Wenn wir jetzt direkte Bürgermeisterwahlen gehabt hätten, hege ich unter diesem Gesichtspunkt wenig Zweifel daran, daß Andrej Schochin gute Chancen gehabt hätte, sie zu gewinnen. Als die Direktwahlen abgeschafft wurden (2010 – Anm. d. Red.), hatten weder Andrej Schochin noch Sergej Sacharow eine Chance, gegen Alexander Rybakow zu gewinnen. Nun hat sich Andrej Schochin als ein sehr effektiver Manager erwiesen, und Versuche, ihn der Korruption zu beschuldigen, hinterließen in der Bevölkerung keinen Eindruck.