Die Russen litten selbst große Not. Mischa, Rolf Oehlers Meister, hat immer wieder mit vom Wodka gelöster Zunge auf Stalin geschimpft und das allgegenwärtige Konterfei des „Vaters und Lehrers der Völker“ sogar einmal – zufällig? – mit einem Werkzeug getroffen. Wenn das ein Politkommissar gesehen hätte… Mischa hielt große Stücke auf seine Deutschen und schätzte sie vor allem für ihre Arbeitsdisziplin und ihr Geschick. Aber für deren Versorgung konnte er auch nicht sehr viel mehr tun.
In Alexander Solschenizyns „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ findet sich eine Stelle, die eindringlich beschreibt, was Essen im Lager bedeuten kann:
Mit dem Hinterteil seiner bereits überall durchgesessenen Wattehose richtete sich Schuchow auf der Kante einer Verschalung ein und lehnt den Rücken an die Wand. Als er ein wenig abrutscht, spannen sich Wattejacke und Weste, und er spürt, wie ihn irgendetwas Hartes an der linken Brustseite, am Herzen, drückt. Dieses Harte ist die Ecke des Brotkantens, der halben Morgenportion im Innentäschchen, die er sich für den Mittag mitnahm. Es war immer die gleiche Menge, die er zur Arbeit mitnahm, ohne sich vor Mittag daran zu vergreifen. Sonst hatte er die andere Hälfte zum Frühstück verzehrt, nur heute nicht. Und Schuchow begriff, daß er damit nichts verbessert hatte. Jetzt packte ihn die Gier, die Portion hier im Warmen, auf der Stelle, zu verzehren. Bis zum Mittag waren es noch fünf lange Stunden. Der Schmerz im Kreuz hatte sich nun in die Beine verlagert. Er fühlte sich wacklig, wenn er doch ans Öfchen könnte! Schuchow legte die Fäustlinge auf die Knie, knöpfte die Jacke auf, band seinen vereisten Gesichtsschutz vom Nacken los, knickte ihn ein paar Mal und steckte ihn in die Tasche. Dann zog er den armseligen Brotkanten aus dem weißen Lappen hervor und begann, das Läppchen im Brusttäschchen haltend, damit kein Krümelchen neben den Lappen falle, kleine Bissen abzubeißen und ganz langsam zu kauen. Er hatte das Brot unter zwei Kleindungsstücken getragen, es mit seinem eigenen Körper gewärmt, und so war es überhaupt nicht gefroren. In den Lagern hatte Schuchow so manches Mal daran gedacht, wie man früher im Dorf gegessen hatte: Kartoffeln – ganze Bratpfannen voll; Brei – Eisentöpfe voll, und noch früher Fleisch – anständige Batzen. Sich obendrein mit Milch vollgepumpt – mochte der Bauch auch platzen. In den Lagern hatte Schuchow begriffen, daß man es so nicht hätte tun sollen. Essen muß man so, daß die Gedanken ausschließlich beim Essen sind. Gerade so, wie du jetzt diese kleinen Bissen abbeißt, sie mit der Zunge ausquetschst und in den Backen aussaugst, und wie duftig dir dann dieses schwarze, nasse Brot erscheint, das Schuchow nun schon acht Jahre ißt, ein neuntes noch? Nichts dagegen. Und er schuftet dennoch. Und wie!“
Keine acht und erst recht keine neun Jahre wurden es für Rolf Oehler, dabei hatte er immer befürchtet, wegen seiner Flucht würde man ihn als letzten nach Hause schicken. Tatsächlich aber durfte er am 2. September 1949 nach fast sechs Jahren Gefangenschaft, sogar noch vor Paul Hütter, die Heimreise antreten. Aus welchen Gründen? Das wird er wohl nie mehr erfahren, aber nie mehr vergessen wird er wohl auch, daß er wegen seiner großen Lippe, die er noch beim Abtransport riskierte, beinahe doch hätte länger bleiben müssen. Der Wachsoldat warnte ihn sogar: „Noch ein Wort, und es geht wieder zurück!“.
Nun war Rolf Oehler Mitte 20, die Jugend hatte er an der Front und in Gefangenschaft gelassen, und sein Jena war nicht mehr die Stadt, die er kannte. Die Eltern wußten wohl aus dem jüngsten Briefverkehr, daß der Sohn bald heimkehren würde, aber dann verfehlten sich Vater und Sohn. Der eine wartete am Nordbahnhof, der andere kam auf dem Bahnhof Jena Paradies an. Ein Vorzeichen für die nächste Zeit einer allgemeinen Entfremdung, wie sie viele Kriegsgefangene nach all den Jahren der Isolation durchleben mußten. Der Heimkehrer nahm einen Schleichweg an der Saale entlang, eingeschüchtert und in sich gekehrt. Der ältere Bruder, Gerhard, war an der Ostfront gefallen, Werner, der jüngere Bruder, war inzwischen wohlbehalten aus Finnland zurückgekehrt und lebt noch heute in Jena.
Ruhe ins Leben von Rolf Oehler brachte Christel, die er schon bald heiraten sollte. Doch den Widerstandsgeist, den er bereits im Lager immer wieder bewiesen hatte, konnte auch die Ehe nicht besänftigen. Von Beginn an legte sich der Heimkehrer mit der Staatsmacht in Gestalt der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands an. Er ließ sich sogar einmal von der Polizei ins Wahllokal bringen, wo er dann doch abstimmte, wie er wollte. Sein Obermeister Haag bei Schott, wo er wieder Anstellung gefunden hatte, warnte den Querkopf, weiter gegen den Strom zu schwimmen.
Rolf Oehler freilich glaubte nicht an die Versprechungen des Sozialismus und gehörte zu denen, die sich gegen die willkürliche Erhöhung der Arbeitsnormen 1953 zur Wehr setzten. Mehr noch, er stand in seiner Schlosserkluft am 17. Juni in der ersten Reihe der Schottianer, die den Protest auf Jenas Straßen trugen, und machte „aktenkundige Bemerkungen“. Die blieben natürlich nicht ungehört, und ein Spitzel verriet den Aufständischen an die Staatssicherheit. Drei Tage lang versteckte er sich bei einer Verkäuferin. Die Nachbarn waren schon gewarnt, daß er möglicherweise über einen der Balkone würde fliehen müssen. Dann standen die Büttel des Regimes plötzlich um 3.30 Uhr mit einem Hund vor Rolf Oehlers Notbett und nahmen ihn mit auf das Kreispolizeiamt. Da lachte man zunächst noch über seine Sprüche der Art: „Warum denn in die Ferne schweifen, das Glück, das liegt so nah! Warum denn untern Teppich sch…? Der Nachttopf steht doch da!“ Doch bald schon war Schluß mit lustig. Das Verhör führten zwei angebliche Studenten. Rolf Oehler aber wollte zuerst wissen, wer ihn angeschwärzt habe. Und tatsächlich gab man ihm einen Namen an, den von Herbert Riesch, der früher immer am lautesten „Heil Hitler“ gerufen hatte, ein Wendehals und Mitläufer. Als der Verdächtige aufdeckte, wes Geistes Kind der Denunziant war, schien schon fast Hoffnung für den Untersuchungshäftling aufzukommen, aber just in dem Moment erschien ein Bote, der etwas abgab, woraufhin sich die Aussichten rasch wieder verdüsterten.
Fortsetzung folgt.
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