Ganz schön mutig, was sich Fjodor Newelskij, der Regisseur des Ensembles „Theater Brücken“ da zutraut, nämlich  in der Bearbeitung von Grigorij Gorin mit seiner Laientruppe einen Stoff auf die Bühne zu bringen, der vom Broadway in New York bis zur Luisenburg von Wunsiedel für volle Häuser sorgt, den man als populäres Musical ebenso kennt wie als aufwendige Verfilmung mit Barbara Steisand. Und nun also der Mehrzwecksaal im Museumswinkel zu Erlangen mit mehr nüchterner Industriekultur im Ambiente als die häufig verklärt-verkitschte Stetlromantik. „Fiddler on the Roof“, „Yentl“, „Tewje der Milchmann“ so lauten die Titel der Dramatisierungen eines Romans aus Geschichten von Scholom Alejchem, der heuer 150 Jahre alt geworden wäre und der den ungebrochenen Erfolg seines Hauptwerks als Schauspiel selbst nicht mehr erlebte. Umsomehr, das sei vorweggenommen, hätte dieser „Goethe“ der jiddischen Literatur inmitten eines begeisterten Premierenpublikums auf den vollbesetzten Rängen seine helle Freude an dem gestrigen Abend gehabt.
Vielleicht kommt man dem Wesen des Stücks in der Erlanger Interpretation und mit dem Titel „Kaddisch“ ja auch viel näher, wenn man auf all den blendenden Bühnenzauber großer Häuser und die perfekte Traummaschinerie des amerikanischen Films verzichtet und stattdessen den Zuschauer nicht nur die zum Weinen traurige und zum Lachen komische Wiedergeburt des alttestamentarischen Hiobs als Tewje miterleben läßt, den nur der Humor davon abhält an Gott und der Welt zu verzweifeln, sondern die äußere wie innere Not in der Familie des Milchmanns ohne Spezialeffekte karg und knapp auf die scharfe Zeichnung der vielschichtigen Charaktere zurückführt. Vielleicht ist man so näher an der Intention des Autors, dessen persönliches Schicksal in jeder Szene durchklingt, wenn die Bilder an mancher Stelle ein wenig ruckeln oder verwackeln, wenn diese einfachen Leute vom Land nicht stilisiert und mythologisiert, sondern so gespielt werden, wie sie sind. Glaubwürdigkeit, Echtheit und Bodenständigkeit in des Wortes wahrsten Sinne, verzichtet man doch sogar auf die „Bretter, die die Welt bedeuten“ und begnügt sich mit dem harten Boden einer Welt, in der mehr schreckliche Dinge passieren, als ein einzelner Mensch aushalten kann, hätte er nicht den Witz auf der Zunge und den Humor im Herzen.
Die Geschichte des Milchmanns ist die eines allseitigen Zusammenbruchs. Das jüdische Stetl in der Ukraine – aus dem der Autor selbst stammt – wird von außen bedroht durch Pogrome (kein schöner Wortimport aus dem Russischen), Revolutionswirren, bittere Armut  und zerbricht zugleich an den starren Mustern einer jüdischen Orthodoxie, an der sogar der gläubige Protagonist scheitert, weil ihm das Glück seiner drei heiratsfähigen Töchter am Ende wichtiger ist, als die Aufrechterhaltung einer rituellen Ordnung. Allen dreien gibt er vielmehr die Freiheit, einen armen Schneider zu heiraten, einem Revoluzzer in die Verbannung zu folgen oder gar zum Christentum zu konvertieren, um einem Goj die Hand geben zu können. Es ist eine Welt, wo der Mensch zur Kreatur gemacht wird und doch die Kraft findet, sich über sich selbst zu erheben, etwa wenn Tewje, der anstelle seiner müden Schindmähre den Karren selbst zieht, sagt, sein Pferd feiere heute den Sabbath. Es ist eine Welt der großen Enttäuschungen und der kleinen Gesten, wo ein verschmähter Bräutigam vor der Flucht nach Amerika die Großmut aufbringt, seiner vergeblich Auserkorenen Geld und ein Bild von sich mit Worten zu schenken, die so schön sind, daß sie nicht von ihm stammen können, auch wenn er sie gerne so gesagt hätte. Überhaupt wären in dieser Welt alle lieber gut und stark, reich und anständig oder einfach anders und nicht unbedingt von Gott auserwählt, um es sich und den andern angenehmer zu machen. Und jeder weiß das vom andern und verzeiht ihm deshalb auch leicht die Schwächen, an denen man ja selbst nicht minder krankt. Menschlich, allzu menschlich geht es zu in Anatevka. Der Gendarm würde bei Tewje lieber Milch holen als Tränen und bedauert bei aller Freundschaft dessen Judentum, worauf der zurückgibt: „Einer muß ja Jude sein, und da ist es doch besser für dich, wenn ich das bin.“ Auch der Pope ist alles andere als ein Finsterling, obwohl er Tewjes Seele gerne bekehren würde. Und am Ende? Vertreibung und Auswanderung, die Vorboten der Auslöschung des Ostjudentums, einer großartigen Kultur, unwiderbringlich verloren. Der Vorabend des Holocaust in eindringlichen Sprachmelodien, von denen man nie recht weiß, ob sie nun in Moll oder in Dur gehalten sind, ganz dem Bogen folgend, den die Geige im Vorspiel zum Stück vorgibt. Noch ist der ganz große Weltenbrand nämlich nicht denkbar, noch darf man am Ende mehr lachen als weinen. Noch konnte der Autor, der übrigens selbst auch sein ganzes Vermögen verloren hat und in die Neue Welt geflüchtet ist, in seinem Testament seine Kinder und Nachkommen darum bitten, an seinem Grab wenn schon nicht den Kaddisch, das jüdische Totengebet, dann doch wenigstens eine seiner heiteren Geschichten zu lesen und gemeinsam zu lachen. Später, wir wissen es, sollte die Milch des Tewje zur „schwarzen Milch der Frühe“ in der „Todesfuge“ von Paul Celan gerinnen.
Die Inszenierung holpert zu Beginn ganz wie der schwere Milchwagen über die Schlaglöcher der Dorfstraße, aber rasch nimmt vor allen Gregor Schmitt als Tewje, ein echtes Zugpferd der Truppe, die Deichsel fest in die Hand und zieht das zunächst etwas widerstrebende Publikum in seinen Bann. Ein richtiges Kraftzentrum ist er auch für seine Mitakteure, gut voltigiert von Fjodor Newelskij, der es sich nicht nehmen läßt, auch selbst als Schauspieler beherzt ins Geschehen einzugreifen. In einer Doppelrolle zu sehen der Petersburger Wadim Schdanow als Gendarm und Pope in großer Pose ebenso präsent wie in der Engführung von Nuancen: ein überzeugender Gewinn für das Ensemble. Gleiches gilt für den ungeniert und unüberhörbar fränkelnde Heiko Grünwedel als Menachem, der redlich bemühte Schmuser und reichlich erfolglose Vertreter, der den Bewohnern des Stetl in der ukrainischen Steppe noch kurz vor der „Umsiedlung“ Versicherungen gegen Hochwasser andrehen will. Die Verwandlungskunst von Inessa Hellwig-Fábián als Golda, Tewjes leidgeprüfte Frau, die während der Geburt der ersten Enkelin stirbt, kennt man bereits aus anderen Stücken und ist doch jedes Mal wieder von ihr angetan. Wenn man noch weiß, daß sie auch im wirklichen Leben als stabil-flexibler Stützpfeiler für „Brücken“ fungiert, zieht man gern den Hut.
Der Name „Brücken“ ist programmatisch. Die Mitwirkenden kommen aus Rußland und leben hier vorübergehend oder auf Dauer, aber es sind auch Eingeborene aus Franken mit von der Partie. Das bekommt just diesem Stück gut, ist es doch herzerfrischend, nicht ein gekünsteltes Jiddisch hören zu müssen, das man mit den letzten noch lebenden Ostjuden in Würde sterben lassen sollte, sondern urfränkischer Mundart, gemischt mit schwerem russischen Akzent, lauschen zu dürfen, ein vielstimmiges Medley, das der jüdischen Diaspora von heute viel mehr entspricht, als die nostalgische Weichzeichnung eines fast erloschenen Idioms. Der unverhohlene fränkische Einschlag bekommt da sogar etwas Universelles und zugleich lokal Verhaftetes, mit dem man sich gern identifiziert. Und so gar nicht vermißt man den befürchteten Soundtrack aus Klezmer & Co.
Die drei Stunden sitzt man gerne ab, zumal in der Pause Zeit ist, in der Ausstellung ein wenig über Scholom Alejchem nachzulesen, was hier nicht referiert werden soll. Mal um Mal klatscht sich das Publikum das Ensemble hinter dem Vorhang hervor und tut recht daran. Eine beachtliche Leistung mit Bildern im Kopf, die nicht gleich wieder verblassen, mit Bildern, die einen noch lange lachen und weinen lassen.
„Brücken“ hat aber auch noch jenseits aller künstlerischen Leistungen Lob verdient: Das von der viel zu früh verstorbenen Jelena Forr gegründete und nun von ihrer Tochter Swetlana erfolgreich geleitete Ensemble ist nachgerade ein Paradebeispiel für gelungene Integration. Spätaussiedler, Kontingentsjuden, ethnische Russen und Ukrainer – sowie besagte Franken spielen, schaffen, arbeiten miteinander für ein ebenso buntes und gemischtes Publikum. Das Stück „Kaddisch“  wird sogar in Zusammenarbeit mit der Jüdischen Kultusgemeinde aufgeführt. Lob verdient „Brücken“ für seine enge Verbindung zur Städtepartnerschaft mit Wladimir. Stücke von Lew Protalin und Anatolij Gawrilow hat die Truppe im Repertoire, das Märchen „Wassilissa Wunderschön“ wurde sogar von Tamara Dschulaj aus Wladimir inszeniert, und das Ensemble durfte 2004 in Anwesenheit des deutschen Botschafters Hans-Friedrich von Ploetz das „Jahr der deutschen Kultur“ mit dem Stück „Der steinige Weg zum andern“ in Wladimir eröffnen. Noch nicht genug? Nein, ein Teil der Einnahmen der Aufführungen soll auch noch für die Krebsstation im Kinderkrankenhaus der russischen Partnerstadt gespendet werden! Damit schließt sich „Brücken“ einem Hilfsprojekt der beiden Klubs von „Soroptimist International“ an. Eine kleine Allianz der Hilfe also und ein leuchtendes Beispiel für das geglückte Miteinander der Kulturen in Erlangen.
Die Aufführung, unterstützt vom Kultur- und Freizeitamt Erlangen sowie Areva, ist noch zu sehen am 2. Mai um 19.00 Uhr sowie am 3. Mai um 15.00 Uhr ebenfalls im Museumswinkel, Gebbertstraße 1, und dann am 9. Mai um 19.00 Uhr im Mühlentheater Möhrendorf sowie am 10. Mai um 16.00 Uhr im Bildungs- und Kulturzentrum Lindenhain Fürth, Kapellenstraße 47. Weiteres unter www.theater-bruecken.de.
Toller Artikel den du hier geschrieben hast, ich kam gerade über google auf deinen Blog. Davor kannte ich Ihn noch gar nicht aber in der nächsten Zeit werde ich öfters hier vorbei schauen denn den Schreibstiel gefaellt mir richtig gut.
Das freut mich ganz unbescheiden! Danke für den Zuspruch!
[…] Mehr zum Verein “Brücken” unter http://www.theater-bruecken.de und mehr zu der sehenswerten Regiearbeit von Fjodor Newelskij hier im Blog unter https://erlangenwladimir.wordpress.com/2009/04/26/wenn-schon-kein-kaddisch-dann-wenigstens-lachen […]
[…] Das Festival spielt auf verschiedenen Bühnen und dauert bis zum 20. November, hat also den Vorteil, nicht zu komprimiert auf wenige Tage zu sein. Man nehme sich Zeit und lasse sich nach allen Regeln der russischen Theaterkunst unterhalten! Näheres zum Festival, das Bürgermeisterin Elisabeth Preuß zur Schirmherrin gewonnen hat, ist unter brucken_theatre_brochure_web und  www.bruecken-erlangen.de nachzulesen. Eines der Stücke aus dem diesjährigen Programm wurde übrigens auch hier im Blog schon einmal recht lobend erwähnt: https://erlangenwladimir.wordpress.com/2009/04/26/wenn-schon-kein-kaddisch-dann-wenigstens-lachen. […]